Schülerbericht - Ein Jahr in Australien

  • Erstellt von Anna Biedermann, Klasse 10
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Der Tag, an dem ich gehen musste, brach mir das Herz. Ich stand am Flughafen und blickte ein letztes Mal in die Gesichter derer Leute, mit denen ich von meiner ersten Woche an ein Jahr durchlebt hatte.

Ein dutzend meiner Freunde waren gekommen, um mich ein letztes Mal zu überraschen und zu sehen wie ich, wie ein Kind weinend, sie umarmte, ein letztes Versprechen machte, meinen Reisepass scannte und die vertrauten Gesichter hinter einer Blende verschwinden sah. Ich hatte am Anfang des Jahres nie geglaubt, dass mein Abschied so emotional werden würde.

Ich erreichte Adelaide am 21.01.2018 kurz nachdem die Sonne untergegangen war. Die warme Luft drückte vom lila-blauen Himmel hinunter und in einiger Entfernung sah ich bereits meine Gastfamilie lächeln. Sie waren so anders als ich sie mir vorgestellt hatte. Eine ältere Frau, ein ebenso alter Mann, die die Eltern von drei Kindern waren: einem jungen Mann (26), der davon träumte Regisseur zu werden, eine willensstarke Soldatin (24), die den freiwilligen Wehrdienst auf sich genommen hatte und eine schöpferische Seele (22), die ihre Augen nicht von der Mode lassen konnte.

Auf dem Weg nach Flagstaff Hill, einem Außenbezirk Adelaides, fingen wir bereits an uns zu unterhalten; Sie erzählten mir, dass es einen sogenannten Recreation Park direkt vor unserem Grundstück gab. Ich wusste nicht wirklich, was das war, doch am nächsten Tag packte mich die Neugier und ich stürzte in 40°C mit einer Wasserflasche aus dem Haus heraus und lief mit offenem Mund staunend einen steilen Pfad zu ‚The Sturt Gorge‘ hinunter – einer Schlucht mit einem kleinen Flusslauf. Ich erstarrte, als sich mein Blick mit einer der 10 giftigsten Schlangen der Welt kreuzte – doch nichts geschah. Sie sah mich kurz an und war so schnell verschwunden, wie sie gekommen war, ich jedoch blieb perplex zurück. Damals wusste ich noch nicht, dass Schlangen sich besonders an schönen Tagen gern am Wasser aufhielten, legte es aber noch in derselben Woche erneut darauf an, als ich meiner japanischen Gastschwester Risa den Fluss zeigen wollte. Sie entschied sich danach, nie wieder freiwillig mit mir Wandern zu gehen.

In der darauffolgenden Woche ging ich zusammen mit 800 anderen Schülern das erste Mal zur Highschool. Ich bekam einen Buddy zugeteilt, ein Mädchen, der ich für eine Woche lang in ihre Klassen folgen sollte, um die Schule kennenzulernen - jedoch vergaß sie mich bereits am zweiten Tag. Ich war vollkommen desorientiert, kannte nicht einmal den Namen meines Buddies und wurde glücklicherweise von einem netten Mädchen, mit dem ich mich zuvor kurz unterhalten hatte, gefragt, ob ich nicht bei ihr und ihren Freunden stehen wolle. Sie fügte hinzu, dass dort so viele andere Leute stünden, ich würde gar nicht auffallen. Das war zwar gelogen, jedoch war ich sehr froh, dass mich so viele nette Leute auf einmal über Deutschland und alle möglichen Stereotypen von Bratwurstnation über die alltägliche Lederhose bis hin zum täglichen Oktoberfest ausfragten. Ich wählte sieben Fächer für das nächste Halbjahr: Japanisch, Englisch, Creative Design, Musik, Kunst, Chemie und Mathematik, und suchte diese auf verschiedenen Fluren der großen Schule bis ich herausfand, dass ich mich im falschen Gebäude befand. Alle Gebäude waren über den Pausenhof miteinander verbunden. Morgens lief ich jeden Tag 1,2 Kilometer zur Bushaltestelle. Die Schuluniform, bestehend aus einem Rock und einem T-Shirt sowie einem Wollpullover, war nicht immer von Vorteil.

Mit meinen Schulfreunden und Risa unternahm ich viel in Adelaide. Nach der Schule liefen wir oft zu einem Shopping Center in der Nähe unserer Schule. Wir gingen Schwimmen, lernten in der Bibliothek, ich verlor regelmäßig beim Bowling, wir spielten Pool oder aßen im Food Court (Sitzgelegenheiten in der Mitte des Raumes und Essensbuden verschiedener Herkunftsländer außen herum). Geschockt von der Tatsache, dass ich nur drei mal zwei Wochen Ferien dieses Jahr haben würde, entschloss ich mich jedes Wochenende zu verplanen: Mit Vorfreude und Neugierde unter beiden Armen begann das Jahr mit dem Fringe Festival.

An einem heißen Februarwochenende zeigten mir Schulfreunde das bunte Fest, wir kletterten auf Bäume im botanischen Garten und sahen uns eine Sonderausstellung des Naturkundemuseums an. Im Weinzentrum Adelaides wurden mehrere kleine Theaterstücke, wie das unserer Gastschwester Kate, aufgeführt. Das war der erste Anstoß, der Risa und mich begreifen ließ, dass der „Aussi“- Lifestyle anders als unserer war. Neben dem Fringe Festival gab es zum Beispiel noch die Royal Adelaide Show, die neben einem Ferkelrennen - moderiert durch einen 90cm großen Siebenjährigen -, Show Bags, Holzhacken und Fahrgeschäften ursprünglich dazu dienen sollte, den Stadtmenschen die Produkte und Aktivitäten von Farmern durch verschiedene Infostände nahezubringen. Mein bleibendes Erlebnis war jedoch meine erste Achterbahnfahrt, auf der ich mir die Seele aus dem Leib geschrien habe, was meine Freunde auch vier Wochen später noch ziemlich lustig fanden.

Wenige Wochen später erfuhr ich, dass es manchmal nicht einfach ist, weit weg zu sein. Aus familiären Gründen saßen Risa und ich nachts zusammen und schwiegen. Wir machten uns Tee, sahen eine Serie und schwiegen uns bis kurz nach Mitternacht mit eher glasigen Augen an. Ich will nichts beschönigen: Am anderen Ende der Welt zu sein heißt wohl auch, dass man nicht immer für jeden von Zuhause da sein kann – und umgekehrt. Doch auch die nächste Woche kam und wir unternahmen viel zusammen. Ich betreute eine japanische Austauschschülerin von unserer Schule für zwei Wochen, ging mit Freunden aus und verlor erneut beim Bowling - der Sport liegt mir wohl einfach nicht - zudem zog ich mir Blessuren beim Football zu, als ich über eine Mitspielerin fiel. Oi.

Es folgten Besuche des Botanischen Gartens, wann immer Risa und ich die Stadt besuchten, der Himeji Gardens, dem kleinen Chinatown und der Eishalle. Wir probierten die Restaurants der Stadt aus, egal ob es gerade erst Mittwoch oder bereits zum Wochenende schlug, schlenderten durch den Shopping Precinct und lernten in unserer Lieblingsbibliothek, der City Library. Freitags luden uns unsere Nachbarn zur Youth Group ein, einer Art Zusammenkommen vieler Jugendlicher und junger Erwachsener, welche jeden Freitag von 17:30 – 23:00 Uhr verschiedene Aktionen organisierten. Neben normalen Aktionen wie Basketball, Billiard, Strandwanderungen oder Laserskirmish kamen auch absurde Dinge wie beispielsweise Real-Life-Pac-Man, Impro-Theater mit eher merkwürdigen Skripten und einem Spiel, bei dem man bei Nacht durch das Gebüsch einen Hang hochwaten musste, ohne von den Nachtwächtern mit Taschenlampe gesehen zu werden, dazu. Danach teilte immer jemand eine Geschichte aus seinem Leben mit der Gruppe oder sprach über verschiedene Aspekte, durch die sie Gott in ihrem Leben wirken gesehen hätten. Viele von uns waren nicht religiös, doch der Kerngedanke war stets philosophischen Hintergrundes und regte zum Nachdenken an.

Zusammen mit der Youth Group bin ich für ein langes Wochenende im mild-herbstlichen Juni in die Flinders Ranges zum Wandern gefahren. Trotz Regens schlugen wir Freitagnachts gegen Mitternacht nach der Schule unsere Zelte auf der rotbraunen Erde zwischen einigen Red Forrest Gum Trees auf. Am nächsten Morgen packten meine Nachbarin, mit der ich mir ein Zelt teilte, und ich dieses zusammen und luden es auf unsere Rücken. Mit über 9L Wasser, Essen für drei Tage, Kleidung, Spielkarten, einer Powerbank, einem Gaskocher und dem Zelt wog mein Rucksack fast 21kg – und ich fühlte mich großartig. Da Risa - aus zuvor genannten Gründen - keine Lust hatte mit mir erneut Wandern zu gehen, war ich gezwungen, viele großartige, neue Leute kennen zu lernen. Wir wanderten tagsüber, trotzten dem Regen und stoppten auf dem Kamm von St. Mary Peak. Wir waren umgeben von kleineren Bergketten, die sich zur Morgenstunde unter dem Grau der Vorzeit und der Wolken vollkommen unberührt in ein sanftes, doch vernebeltes Gelb tauchten und die Flüsse, farbenfrohen Büsche und leicht rötliche Landschaft wiederspiegelten. Nachts kehrte das Grau, welches sich über den Tag verloren hatte, zurück und durchtränkte die Landschaft, bis zu einem tiefen Schwarz. Der Himmel färbte sich erst leicht gelblich, dann rot, Vögel verließen den Kamm und manche weinten, denn der dritte Tag der Wanderung hatte an all unseren Kräften gezehrt. Wir wandten uns besonders den Jüngeren zu, wobei es mir wohl gar nicht zusteht das zu sagen, schließlich war auch ich Teil dieser Altersgruppe. Das erste Mal fühlte ich mich jedoch, als ob ich über mich hinausgewachsen war: Ich war ein Ansprechpartner für andere, für Jüngere, geworden und tröstete sie.

Ich dachte an den Himmel, der explodiert war, als ich in Kings Canyon im April im Schlafsack draußen genächtigt hatte. Tausende von Sternen hatten sich über meinem Kopf erhoben und den Zauber der Milchstraße auf mich wirken lassen. Ein Hase war nachts über zwei andere aus unserer Reise-Jugendgruppe geflüchtet – eventuell zurück zu den massiven und atemberaubenden orangefarbigen Felswänden, die einen Abgrund umschlossen, in denen sich nur wilde Tiere wie Kängurus, Koalas, Emus, Wallabies und Echidnas aufhielten - doch es war keine sternenklare Nacht in den Flinders. Wir rückten um unser Lagerfeuer näher zusammen und hörten den letzten Abendgedanken unseres Ausflugs am Fuße von St. Mary an, bevor wir am nächsten Nachmittag in den Alltag zurückkehrten. Ich kochte abends mit Risa und erzählte meinen Gasteltern von meinen Erlebnissen und den tollen Leuten, die ich kennengelernt hatte.

Unsere Gastmutter hatte sich entschlossen, mit Risa und mir Melbourne zu besichtigen und kurz einen Verwandten zu besuchen. Mit der coolsten Oma im Gepäck, die alle nur „Nana“ nannten, besichtigten wir alles, was an diesem Wochenende nicht bei drei auf den Bäumen war. Am ersten Tag gingen wir auf eine „Free-walking Tour“, bei der uns Studenten für etwas Trinkgeld Melbourne näher gebracht wurde. Die Sonne schien, das Wetter war perfekt, Nana lachte und Leanne überließ es uns, die nächste Bahn für ihren Tagesplan zu finden. Einige Wochen später sahen wir zusammen mit Nana die australische Kultserie „Home and Away“ an, der sich unsere Gasteltern stets verweigerten. Nana war für Risa und mich extrem wichtig geworden. Sie erzählte uns, wie sie sich nicht getraut hatte nach dem Tod ihres Mannes allein auf Reisen zu gehen und dass sie froh war, nach Melbourne gereist zu sein, wobei wir sie und Leanne auf Zack hielten und sie sich manchmal nachmittags ausruhen musste, während Risa und ich die Stadt zu Fuß erkundeten. Wir waren froh, auch etwas Kleines an unsere Gastfamilie zurückgegeben zu haben.

Risa verließ Australien früher als ich. Ende November übergab ich ihr eine Collage, die ich von unseren Erlebnissen gebastelt hatte, sowie all meine Wünsche, die ich ihr mitgeben wollte. Wir lagen uns weinend in den Armen - In dem Jahr hatten wir füreinander Familie bedeutet: Wenn keiner zu unseren Schulkonzerten kommen konnte, dann saß die jeweils andere stets allein in den Reihen des Publikums; wenn wir Probleme hatten, waren wir es, die Rat beieinander suchten.

Bis zum 21. Dezember unternahm ich alles Mögliche. Ich war auf die Farm einer Freundin eingeladen, mit der ich über das trockene Gras Quad fuhr, Mince Pies aß und das Baumhaus neu einweihte, wanderte durch Kuitpo Forrest, spielte Karten mit Schulfreunden. Einige meiner Freunde wurden 18, ich besuchte Farewells, wurde von einer Krabbe am Coorong entdeckt, sammelte Feinkostmuscheln und lachte und wanderte viel mit Freunden: So liefen wir vom Strand 16km bis in die Stadt.

Schließlich kam meine eigene Farewell Party. Alle meine Freunde aus ganz unterschiedlichen Gruppen waren zusammengekommen und der Aussie Football brach das Eis. Wir kickten ihn erst im Kreis, bevor wir ihn versehentlich in einem Baum verloren, woraufhin alle versuchten ihn mit Stöcken zum Fall zu bringen. Wir spielten einige Spiele, die ich von der Youth Group kannte, schlugen uns den Bauch am Picknick voll und genossen den Abend. Wir versuchten zu fast zwanzigst alle gleichzeitig von einem Baumstamm zu springen und ein Foto zu machen. War jemand zu schnell abgesprungen, mussten alle aufrücken, denn man kam nur von einer Seite aufgrund des steigenden Durchmessers des Baumes auf den Stamm. Wir sahen die Sonne untergehen, kickten den Football erneut in der letzten Abendsonne.

Zwei Tage später winkte ich bereits. Unter meinem Gepäckstücken befanden sich Briefe und ein Poesiealbum, eine Überraschung von meinen Freunden: Sie hatten sich alle Zeit genommen, mindestens eine Seite meines wohl neuen Lieblingsbuches zu befüllen.

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